Bescheidenheit
Gestern sprach mein Lehrer über die Bescheidenheit Chen Xins und seines Altmeisters Du Yuze. Bescheidenheit gehörte in alter Zeit zur (kämpferischen) Tugend (Wude) und war Bestandteil des Geistes eines wahren Kampfkünstlers.
Du Yuze, der in seiner Jugend von Chen Yanxi, dem Vater Chen Fakes gelernt und in dessen Tradierungslinie aufgenommen worden war, betonte noch im Alter von 94 Jahren wie viel er noch im Taijiquan zu lernen hätte, und wie wenig er doch wisse. Dabei hatte er sein ganzes Leben lang hart trainiert, wurde hoch geachtet und besaß ein profundes Wissen und Können im Taijiquan.
Obwohl Chen Xin zusammen mit seinen Brüdern zu den herausragenden Vertretern des Taijiquan seiner Generation gehörte und uns das wichtigste Grundlagenwerk zum Taijiquan hinterlassen hat, stellte sich Chen Xin nie in den Vordergrund, sondern betonte stets in Bescheidenheit sein Unvermögen in allem was seine Fähigkeiten betraf.
In seinem Werk "Graphische Erläuterungen zum Taijiquan des Chen Clans" schreibt Chen Xin:
* "Mein großer Vorfahre befahl meinem älteren Bruder (Chen) Yao das Martialische, Wu, zu studieren, während ich das Literarische (das Zivile), Wen, erlernen sollte. Derjenige, der das Martialische trainierte, dessen Kampfkunst ließ sich sehen, während der das Literarische Studierende keinerlei Erfolge vorzuweisen hatte, was ganz meine Schuld gewesen war."
In einem anderen Satz schreibt er:
* "Mein Wissen ist sehr begrenzt; mit meinen Worten kann ich keinen hochwertigen Stil ausdrücken. So bleibt mir nur, mit einfacher, ordinärer Sprache die große Bedeutung zu umschreiben."
Ob es nun das Literarische war, das ihn sein Vater lernen lies, oder seine kampfkünstlerischen Fähigkeiten betraf: stets betonte es sein Unvermögen in allen Dingen.
Du Yan, Du Yuzes Vater, der dabei half Chen Xins Meisterwerk zu veröffentlichen, schreibt in seinem Vorwort zu dessen Werk:
* "Am Sommeranfang 1929 [14] kamen Bambusstreifen [15] bei mir vorbei, [getragen von einem Anm. d. Ü.] an den Schläfen Ergrauten [16], in der Luft daher schwebend, im hohen Alter von mehr als 81 Jahren. Das Vorwort [17] sollte mir gehören, und so nahm ich das Buch und las es. Darin findet sich das Ausdehnen und Verdichten, das Öffnen und Schließen aus der Faustkunst, die Theorie des Yin und Yang, des Abschließens und des Aufmachens wiederholt erläutert und verdeutlicht.
Unermüdlich ist (dieses Buch) um Deutlichkeit bemüht, man kann sagen, es führt aus, was die Vorgänger nicht ausgeführt hatten. Alle die heute diese Kampfkünste [18] propagieren, eine Kampfkunsthalle [19] eröffnen möchten, all die sollten sich dieses Buch aneignen. Wenn sie mit diesem Wissen unterrichten, so können sie mit halbem Aufwand doppelte Erfolge erreichen. 1000 Meilen an einem Tag, wie könnten die Ergebnisse dann flach und zu laut sein?
In diesem Buch des Herrn, egal ob es Knochen oder Fleisch der Kampfkunst betrifft, immer sind Bewegung und Ruhe einander stimulierend und überkreuzend (dargestellt), und Yin und Yang erreichen ihre essentielle Bedeutung im Gleichgewicht. Mein Wissen ist sehr flach und dünn, ich kann die Wundersamkeit dieser Prinzipien nicht ergründen. Ich kann nur den Ausschnitt im Weidenrohr [20] sehen und warte auf weitere Nachfahren zur Erhellung."
Selbst bescheiden, zeigt Du Yan Hochachtung vor Chen Xins Arbeit.
Um es zu einer hohen Meisterschaft in etwas zu bringen, ganz gleich um was es sich dabei handelt, darf man nie mit dem zufrieden sein was man kann und weiß, oder glauben man wisse bereits alles. Nur so erlangt man wahre Meisterschaft.
Heute, im Zeitalter von Internet und Social Media, sind Bescheidenheit und Achtung fast ein Fremdwort. Viele glauben schon alles zu wissen, wissen in Wirklichkeit aber sehr wenig. Dabei will ich mich nicht davon ausnehmen: das eigene Ego ist manchmal sehr verführerisch und bringt einen gerne vom Weg ab; so habe auch ich noch unendlich viel zu lernen.
Leider wird Chen Xins Bescheidenheit heute gerne dazu missbraucht ihm hohe kämpferische Fähigkeiten abzusprechen. Dabei bezieht man sich darauf, dass sein Vater ihn zum Literarischen bestimmt hatte und auf die Aussage von Chen Xin selbst, dass er seine Fähigkeiten geringer einschätzte als die seines älteren Bruders Chen Yao.
Sicher es gibt unterschiedliche Begabungen, aber Chen Xin erlernte die Kampfkunst genauso gründlich wie seine Brüder und begleitete seinen Vater in kriegerische Auseinandersetzungen auf das Schlachtfeld.
Als Älterer sollte es völlig natürlich sein dem jüngeren Bruder immer einen Schritt voraus zu sein. Es ist also nichts Ungewöhnliches wenn Chen Xin dies sagt, und mindert keinesfalls seine Fähigkeiten.
Trotzdem liest man oft, dass genau dies Chen Xins Beweggründe gewesen sein sollen seinen Beitrag zum Familienerbe auf literarischem Weg mit der Niederschrift der Theorie zu leisten. Was unerwähnt bleibt, ist, dass er in Wirklichkeit auch auf praktischem Weg seinen Beitrag zum Familienerbe leistete, Chen Xin hatte viele Schüler. In seiner Tradierungslinie stehen zum Beispiel auch alle heutigen direkten Nachkommen des Chen Taijiquan Begründers Chen Wangting sowie seiner beiden Brüder Chen Yujie und Chen Wangqian.
In Chen Xins Vorwort zu seinem Werk kann man seine Beweggründe für die Niederschrift der Taijiquan-Theorie seiner Familie nachlesen. Hier drückt er als Motivation für seine Arbeit die Furcht vor dem Verschwinden des Kampfkunsterbes seiner Familie aus. Diese Furcht war sein drängendster Begleiter bei der Niederschrift der tiefgründigen Theorie des Taijiquan; er schreibt:
"Die Zeit wartet nicht auf mich, und so fürchte ich außerdem, dass sich das jetzige Taijiquan in Stile und Schulen aufgespalten hat, sehr viele Zweige entstanden sind und die wahre Tradierung verloren geht."
Seine Hauptmotivation war also die Angst davor, dass das Kampfkunsterbe seiner Familie verschwinden könnte wenn er es nicht niederschreiben würde, und die Zeit drängte ihn seines hohen Alters wegen. Er schreibt weiter:
* "..alles will ich deutlich erklären, und ausführlich beschreiben, wobei ich nicht wage, auch nur das Geringste egoistisch zurückzuhalten."
Dank Chen Xins Großonkel Chen Youben, seinem Vater Chen Zhongshen, seinem Onkel Chen Jishen, deren Kindern und all ihren Nachfolgern ist diese Kampfkunsttradition bis zum heutigen Tag intakt erhalten gebliebenen. So haben wir die Möglichkeit sie sowohl theoretisch als auch praktisch bei ihren Nachfolgern zu lernen. Für all dies verdienen sie alle unseren Dank und hohen Respekt. Gleiches gilt für die deutsche Ausgabe von Chen Xins Werk "Kommentare zu den Graphischen Erläuterungen zum Taijiquan des Chen Clan" die von Dr. Hermann Bohn in langjähriger Arbeit akribisch übersetzt und kommentiert wurde, sowie dem Herausgeber dieses Werkes D.S..
Endnote
[14] - [20] Erläuternde Kommentare von Dr. Hermann Bohn finden sich in der deutschen Fassung von Chen Xins Werk dem "Kommentare zu den Graphischen Erläuterungen zum Taijiquan des Chen Clan", aus dem Verlag Dietmar Stubenbaum, mit dessen freundlicher Genehmigung hier zitiert [*] wird.